Scharfe Kritik an mangelnder Datenverarbeitung im deutschen Gesundheitswesen
Am Stand der Datenverarbeitung und Digitalisierung des deutschen Gesundheitswesens gibt es scharfe Kritik. Der Intensivmediziner Christian Karagiannidis forderte den sofortigen Aufbau eines Corona-Registers für die Krankenhäuser in Deutschland. Der Sachverständigenrat Gesundheit warnte, nicht verfügbare Gesundheitsdaten bedeuteten "ein Risiko für jeden Einzelnen" und könnten sogar lebensbedrohliche Folgen haben.
"Wir haben keinen blassen Schimmer, wie viele betreibbare Krankenhausbetten wir tagesaktuell in Deutschland haben, wie viele davon belegt sind und wie viele Pflegekräfte wirklich zur Verfügung stehen", kritisierte Karagiannidis, der auch Mitglied im Corona-Expertenrat der Bundesregierung ist, in der "Augsburger Allgemeinen" vom Mittwoch.
Als Vorbild verwies er auf das von ihm mit aufgebaute Intensivregister der Deutschen Interdisziplinären Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin (Divi). Dieses gibt unter anderem über die Kapazitäten bei Intensivbetten Auskunft. Es gehe jetzt aber darum, "wie viele Corona-Patientinnen und -patienten nicht nur auf der Intensivstation, sondern auch auf den Normalstationen liegen", betonte der Mediziner.
"Die offiziellen Daten sind aktuell meilenweit von der Realität entfernt", sagte Karagiannidis. So sei die sogenannte Hospitalisierungsinzidenz, die vor einer Überlastung der Kliniken warnen soll, in Nordrhein-Westfalen in Wirklichkeit dreimal höher als offiziell gemeldet.
Ein erweitertes Corona-Register für die Krankenhäuser wäre nach Karagiannidis' Worten binnen weniger Wochen umsetzbar, also noch während der aktuellen Omikron-Welle. Dafür könnten die Eingabemasken des Divi-Intensivregisters genutzt werden, dessen Aufbau sechs Wochen in Anspruch genommen habe.
"Wir sind im Bereich klinischer Daten die am weitesten abgehängte Industrienation in der wissenschaftlichen Forschung", kritisierte Karagiannidis weiter. Der Stand der Digitalisierung im deutschen Gesundheitswesen sei "eine Katastrophe". Ein Hauptgrund dafür sei, dass die seit 20 Jahren beschlossene elektronische Patientenakte noch immer nicht Praxis sei.
Der Datenschutz sei dabei häufig nur eine Ausrede. Der "Grund für die Nichtumsetzung liegt eher darin, dass sehr viele unterschiedliche Beteiligte eine echte Transparenz im Gesundheitswesen nicht möchten", sagte der Mediziner. Dabei sei die erforderliche Infrastruktur für eine umfassende Digitalisierung mit dem Institut für das Entgeltsystem im Krankenhaus (InEK) bereits vorhanden.
Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) schrieb auf Twitter in Reaktion auf Karagiannidis, an "zeitnaher Übermittlung der Daten vom Krankenhaus an das RKI wird bereits gearbeitet". Dies sei eine Aufgabe, der er sich nach seinem Amtsantritt "sofort gestellt" habe.
Grundsätzliche Kritik äußerte auch der Sachverständigenrat zur Begutachtung der Entwicklung im Gesundheitswesen (SVR Gesundheit). Das deutsche Gesundheitssystem sei während der Corona-Pandemie oft im völligen Blindflug unterwegs, schrieben der Vorsitzende Ferdinand Gerlach und der Geschäftsführer Frank Niggemeier in einem Gastbeitrag für die "Zeit".
"Die Folge: Wir wissen nicht genau, wie viele Menschen infiziert oder geimpft sind. Wir wissen nicht, wo Ansteckungen stattgefunden haben." Gerade in der Omikron-Welle sei das Thema Datenerhebung und Digitalisierung zentral.
"Nicht verfügbare Gesundheitsdaten bedeuten ein Risiko für jeden Einzelnen, unter Umständen ein lebensbedrohliches", schrieben die beiden Regierungsberater weiter. Gesellschaft und Politik in Deutschland müssten die Perspektive wechseln - "von Datenschutz als bloßem Abwehrrecht gegen Missbrauch hin zu einem Anspruch auf Datennutzung für bessere Forschung und Versorgung".
E.M.Filippelli--PV